
Einmal die Perspektive wechseln – eine Weisheitsgeschichte
Wenn ich mich in einer herausfordernden Situation befinde, mich darin wie gefangen fühle und erstmal keinen guten Ausgang sehe, hilft mir die folgende Geschichte, die Perspektive – vielleicht nur für einen Moment – zu ändern:
Ein Bauer hatte ein Pferd, aber eines Tages lief es fort und der Bauer und sein Sohn mussten ihre Felder selbst pflügen. Die Nachbarn sagten: “Was für ein Pech, dass euer Pferd weggelaufen ist!”. Aber der Bauer antwortete: “Wer weiß, wozu es gut ist?”
Eine Woche später kam das Pferd zum Bauernhof zurück und brachte eine ganze Herde wilder Pferde mit. “So viel Glück!” riefen die Nachbarn, aber der Bauer sagte: “Wer weiß, wozu es gut ist?”
Kurz danach versuchte der Sohn des Bauern, eines der wilden Pferde zu reiten – aber er wurde abgeworfen und brach sich ein Bein. “Oh, so ein Pech!” Die Nachbarn hatten Mitleid, aber der Bauer sagte wieder: “Wer weiß, wozu es gut ist?”
Ein paar Tage später zog der Landesherrscher alle jungen Männer in sein Heer ein, um in die Schlacht zu ziehen. Aber den Sohn des Bauern ließen sie wegen seines gebrochenen Beins zu Hause: “Was für ein Glück, dass dein Sohn nicht in die Schlacht ziehen muss!” freuten sich die Nachbarn.
“Wer weiß, wozu es gut ist?”
(Verfasser unbekannt)
Die Geschichte erinnert mich daran, ein Stück weit loszulassen – die Situation mehr so zu akzeptieren, wie sie ist, und darauf zu vertrauen, dass es einen Sinn hat, auch wenn ich ihn jetzt noch nicht sehen kann.
Ich wünsche uns allen viel Inspiration, Weisheit und gute Geschichten!

Sinn nach Viktor Frankl
Sinn kann nicht gegeben werden, sondern muss gefunden werden. (Viktor Frankl)
Schon länger hatte ich die Idee, hier einen Beitrag über eins meiner großen Vorbilder zu schreiben, den österreichischen Neurologen und Psychiater Viktor Frankl (1905-1997). Frankl begründete die Logotherapie und Existenzanalyse, die neben Freud und C.G. Jung auch als „dritte Wiener Schule der Psychotherapie“ bezeichnet wird. Bekannt wurde er insbesondere durch das Buch „…trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“, in dem er seine Eindrücke und Erfahrungen im Konzentrationslager während des Zweiten Weltkriegs beschreibt.
Als Einziger aus seiner Familie überlebte Frankl die Inhaftierung im Konzentrationslager. In seinem autobiographischen Buch schildert er weniger die Gräueltaten dieser Zeit, sondern richtet die Aufmerksamkeit auf den Alltag der Häftlinge, die Auswirkung der Einlieferung ins Konzentrationslager und auf die Beziehung der Häftlinge untereinander und zu den Aufsehern… Noch unter den extremsten inhumanen Bedingungen, so beschreibt es Frankl in seinem Buch, ist es möglich, Sinn im Leben zu finden. Ein solcher Sinn (ein Wozu) mache es möglich, auch die extremsten Bedingungen zu ertragen.
Der Sinn für Frankl war in dieser Zeit die Vorstellung, später ein Buch über die Grausamkeiten und Bedingungen in diesen Lagern zu veröffentlichen; er wollte überleben, um später davon zu berichten.
Darin zeigt sich auch, dass der Sinn für jeden Menschen individuell ist. Nicht jeder Mensch wird seinen Sinn darin finden, ein Buch über die Geschehnisse seiner Zeit zu schreiben und Menschen dadurch etwas zu vermitteln und aufzuklären. Dennoch geht Frankl davon aus, dass jeder Mensch so etwas wie einen „Willen zum Sinn“ in sich trage, dass jeder Mensch nach Sinn strebt. „Sinn“ kann nach Frankl zudem nicht willkürlich „gemacht“ oder von außen gegeben werden, sondern Sinn liegt in uns und in der Welt bereits schon vor, und muss „gefunden“, von uns wahrgenommen werden, wie das Zitat oben andeutet. Es kann demnach als Aufgabe des Menschen verstanden werden, „den einmaligen und einzigartigen Sinn, der in jeder Situation verborgen ist, aufzuspüren.“ (Frankl)
Kategorien von Sinn nach Frankl
Welche Möglichkeiten, Sinn zu finden, hat der Mensch nach Frankls Auffassung? In seinen Schriften unterscheidet er drei Wertkategorien – Möglichkeiten, durch die ein Mensch in seinem Leben Sinn verwirklichen kann:
1. Schöpferische Werte bzw. Kreativität: Ein Mensch kann Sinn darin finden, etwas (Materielles) zu schaffen, ein Produkt oder eine Idee, die er von sich nach außen umsetzt. Der schöpferische Anteil, die Bedeutung kann darin liegen, eine kreative Arbeit wie beispielsweise ein Buch fertigzustellen, einen sinnvollen Beitrag für etwas Größeres/für die Welt zu leisten oder auch die selbständige Ausführung einer eigenen Idee, statt Vorgaben auszuführen… Grundsätzlich können schöpferische Werte alles umfassen, das wir tun, machen oder aufbauen, also auch unsere Beziehungen, unser Beruf, Wissen, politisches Engagement…
2. Erlebenswerte: Damit sind alle Erlebnisse gemeint, die von außen auf uns einwirken und dadurch Sinn entstehen lassen, wie beispielsweise Erfahrungen in der Natur, durch Musik, Kunst, die Beziehung zu anderen Menschen, die uns etwas bedeuten und dadurch auf uns einwirken. Ein Mensch kann Sinn „erleben“ auf Wanderungen in der Natur, bei der Wahrnehmung des Wunders der Schöpfung oder auch beim Genuss eines Konzerts; ein anderer findet Sinn, Zufriedenheit und Geborgenheit in der Beziehung zu anderen Menschen, im Zusammensein mit dem Partner/der Partnerin oder in der Gemeinschaft mit den Arbeitskollegen…
3. Einstellungswerte: Gemeint ist die innere Haltung, zu Dingen und Ereignissen, die wir nicht ändern können. Eine von Frankls bedeutendsten Aussagen ist, dass es zur letzten Freiheit des Menschen gehöre, dass er seine Einstellung unter welchen Umständen auch immer frei wählen und einen eigenen Weg wählen kann. Das bedeutet, wir können wählen, welche innere Haltung wir in einer schwierigen Situation einnehmen, ob wir sie annehmen und in Würde damit umgehen oder ob wir die Verantwortung abgeben. Das können beispielsweise unser Umgang mit und unsere Haltung zu einer Krankheit, zum Älterwerden oder auch zu einer anderen herausfordernden Situation sein. Selbst im Leiden gibt es nach Frankl noch die Möglichkeit, durch unsere Einstellung dazu für andere ein Vorbild zu sein.
Für mich sind die Biografie Viktor Frankls, seine Logotherapie und die Definition von Sinn immer wieder enorme Inspirationsquellen. Vielleicht kann der Artikel ein paar Aspekte aufzeigen und zum Nachdenken über das Thema Sinn anregen… Ich wünsche Ihnen viele schöpferische und sinnhafte Momente!
Literatur:
- Viktor Frankl, „…trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München, 2018.
- Viktor Frankl, „Das Leiden am sinnlosen Leben. Psychotherapie für heute,“ Freiburg, Basel, Wien, 1997.
(Foto von Prof. Dr. Franz Vesely, Wikimedia Commons)

Radikale Selbstverantwortung
Ich übernehme die Verantwortung:
…für alle meine Gefühle
…für meine Verletzungen und Wunden
…dafür, dass ich andere verletzt habe
…für meine Bedürfnisse
…für meine Liebe
…mein Glück und mein Unglück
…für meinen Anteil an Beziehungen
…für meine Grenzen
…für mein Licht und meine Schatten
…dafür, dass es mir gut geht
…für die Zeiten, in denen es mir schlecht geht
…für meine Arbeit und Lebensaufgaben
…für meine Pausen
…für meine Erfolge
…für meine Fehler und meine Schwächen
…für mein Wohlbefinden
…für mein Selbstbewusstsein und die Wertschätzung meiner Person
…für meine Entscheidungen, für mein Ja und mein Nein
…für meine Gesundheit und meine Krankheiten
…für meine Heilung
Ich hole mir meine Macht zurück.
Vor Kurzem habe ich hier einen Artikel über Erlernte Hilflosigkeit veröffentlicht. In den letzten Tagen ist mir erneut klar geworden, was das Gegenmittel dafür ist: so vollständig wie möglich die Verantwortung für sich und das eigene Handeln zu übernehmen. Keine Opferrolle anzunehmen und damit die eigene Macht und die Verantwortung an andere abzugeben.
Unsere Erfahrungen prägen uns und wir stehen immer wieder vor Herausforderungen. Gleichzeitig haben wir die Möglichkeit, durch unsere Entscheidungen darauf zu reagieren, wie wir es für sinnvoll halten. Keiner ist „schuld“ daran, was uns geschieht und was wir erleben – mir ist wichtig, was ich daraus mache. Ich habe mich entschieden, mir diese Verantwortung zurückzuholen – und mich selbst zu ermächtigen.
Diese Erkenntnis kann das eigene Leben ganz schön umkrempeln, und gleichzeitig zutiefst reich und lebendig machen. In manchen Fällen geht es vielleicht auch darum zu erkennen, was ist mein Anteil und wo liegt der Anteil von anderen Menschen – aber auch dann bin ich herausgefordert zu wählen, wie weit will ich mitgehen und wo liegt meine Grenze. Mir persönlich hilft es dann, mir selbst und dem Prozess/dem Leben zu vertrauen.
Das war mir einen Special-Blogbeitrag an Ostern wert. ;-)
Ich wünsche Euch allen frohe und gesunde Osterfeiertage!

Kraftquellen: Was nährt mich wirklich?
Seit Beginn des letzten Jahres – also noch vor Corona – habe ich mir die Frage gestellt, was mir guttut und was mich persönlich nährt. Die Frage hat mich das ganze Jahr über begleitet und ich habe immer wieder aufmerksam wahrgenommen, was mir gute Energie gibt, besonders in den Phasen, in denen ich meinen Energiespeicher wieder auffüllen musste. Ich wollte etwas dafür tun, um mich gesund und wohl zu fühlen, und habe mich deshalb auf die Suche nach meinen Kraftquellen gemacht.
Meine aktuelle Antwort auf die Frage, was mich wirklich nährt, lautet: Schlafen, Bewegung (z.B. laufen, wandern und Yoga), meinem Körper zuhören, (Herzens-)Gespräche mit Freunden, Zeit in der Natur, Zeit fürs Nichtstun, Zeit für Spiritualität, gesundes Essen, eine sinnvolle Arbeit, Pausen bei der Arbeit machen, mich unterstützen lassen (z.B. durch Supervision), Grenzen setzen (z.B. auch bei der Arbeitszeit), Tanzen, Musik, Lesen, Ausflüge am Wochenende, neue Dinge lernen, Achtsamkeit.
Die individuellen Kraftquellen herauszufinden kann auch bedeuten, sich mit den eigenen Bedürfnissen zu beschäftigen: Welche Bedürfnisse erfülle ich mir im Allgemeinen sehr gut, welche Bedürfnisse werden weniger genährt? Habe ich ein Gefühl dafür und nehme wahr, was ich brauche? Fällt es mir eher leicht oder schwer, meine Bedürfnisse zu kommunizieren und für ihre Erfüllung zu sorgen? Übernehme ich Verantwortung für meine tiefen Bedürfnisse? Spannend finde ich auch, ein Bedürfnis auszuwählen (z.B. Sicherheit, Liebe, Geborgenheit etc.) und eine Weile achtsam wahrzunehmen, wie es auf mich wirkt, wenn ich damit in Kontakt bin…
Die Suche nach den Kraftquellen bedeutet gleichzeitig nicht, dass ich mich ständig in meiner Kraft fühle oder dass es mir andauernd gut gehen muss… Paradoxerweise kann es auch eine Kraftquelle sein, wenn ich mir erlaube, dass es mir auch mal schlecht gehen darf. Müdigkeit und Erschöpfung haben auch eine nährende Funktion: Sie zeigen mir an, wann es für mich wichtig ist, langsamer zu machen, eine Pause einzulegen oder eine Auszeit zu nehmen. Das Nährende kann sein, die darin enthaltene Botschaft zu hören und sich der Erschöpfung hinzugeben.
Weitere Anregungen für mehr Kraft und Energie
Welche Möglichkeiten gibt es, um mich mit Energie zu versorgen und wieder Kraft zu schöpfen? Eine Auswahl möchte ich hier gern vorstellen:
1. Für Schlaf sorgen. Schlaf ist die Basis, um sich wohl und gut versorgt mit Energie zu fühlen. Finden Sie heraus, wie viel Schlaf Sie benötigen (in der Regel mindestens 6 bis 8 Stunden pro Nacht). Sorgen Sie für Regelmäßigkeit und eine ruhige Schlafumgebung. Auch regelmäßige Bewegung am Tag hilft, um gut ein- und durchzuschlafen. Vielleicht hilft es auch, ein Schlaftagebuch zu führen, um die nötige Schlafdauer besser einzuschätzen.
2. Pausen und Entspannungszeiten einplanen. Sie können Ihre Pausen über den Tag verteilt bereits vorab einplanen und sogar in den Terminkalender eintragen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass kurze Pausen nach jeweils 90 Minuten notwendig und am effektivsten sind. Auch regelmäßige Entspannungszeiten, wie ein freier Tag am Wochenende oder unter der Woche sowie Urlaube sollten fest eingeplant werden.
3. Energie durch Ernährung gewinnen. Welche Ernährung uns Energie gibt und welche uns eher träge macht ist für jeden Menschen verschieden. Achten Sie mal darauf, welcher Essensrhythmus (d.h. zu welchen Uhrzeiten) und welche Nahrungsmittel Sie eher mit Energie versorgen. Lebensmittel mit einer hohen Nährstoffdichte, mit vielen Vitaminen, Mineralien und Flavonoiden spenden und meist mehr Energie.
4. Bewegung. Bewegung verbessert nicht nur unsere Schlafqualität, sondern gibt uns auch Energie, versorgt unseren Körper mit Sauerstoff und hilft uns dabei, Stress abzubauen. Es muss ja nicht gleich der nächste Marathon sein, für den man trainiert. Auch ein Spaziergang am Morgen, die Lieblingssportart, die Verabredung zum gemeinsamen Bewegen mit einer guten Freundin wirken kraftspendend und belebend. Übrigens ist Ausdauersport auch eine gute Vorsorge vor körperlichen und seelischen Erkrankungen…
5. Die eigenen Gedanken beobachten. Manchmal sind es die eigenen Gedanken, die uns die meiste Kraft rauben. Zum Beispiel, wenn uns sorgenvolle Gedanken belasten oder sich bestimmte Gedanken in Endlosschleife in unserem Korp drehen. Beobachten Sie mal, welche Gedanken sich dabei meistens wiederholen und ersetzen Sie sie wenn möglich durch hilfreichere Gedanken (z. B. statt: „das schaffe ich nie“ zu „ich werde mit meinem Chef darüber sprechen und einen Teil der Arbeit abgeben.“ Auch sich in die Gegenwart zurückzuholen (was ist jetzt gerade die Realität?) kann sehr hilfreich sein.
6. Grenzen setzen. Auch die Beziehung zu anderen Menschen kann dazu führen, dass uns Energie fehlt, vor allem, wenn wir dazu neigen, die Erwartungen anderer erfüllen zu wollen oder sehr viel helfen zu wollen. Entscheidend ist eine gute Balance: Was will ich und kann ich gerne geben, was ist mir zu viel und wo liegen meine Grenzen? Will ich den anderen nicht enttäuschen und gehe deshalb über meine Grenzen hinaus? Befragen Sie sich selbst ehrlich und üben Sie sich darin, gesunde Grenzen zu ziehen.
7. Spiel, Spaß und Kreativität. Last not least: Spiel, Spaß und Kreativität füllen Ihren Energiespeicher ebenfalls sehr gut wieder auf. Tätigkeiten, die ganz zweckfrei sind, in denen Sie ungestört Ihren Gedanken nachhängen oder das tun können, was Sie einfach am liebsten tun, wirkt enorm entspannend und setzt viel kreatives Potential und Lebenskraft frei. Das kann sein ausgelassen zur Lieblingsmusik zu tanzen, eigene Songs zu komponieren oder Science-Fiction-Romane zu schreiben… Sie wissen schon, was ich meine. ;-)
…
Herauszufinden, was Sie wirklich nährt, ist individuell. Das kann Zeit für sich allein oder in Gemeinschaft mit anderen bedeuten, für den einen ist es die sportliche Herausforderung, bei der er/sie alles um sich herum vergisst, für den anderen sind es möglichst viel Ruhe und Nichtstun. Beobachten Sie doch mal, in welchen Momenten Sie sich besonders wohl fühlen. Was sind Ihre liebsten Kraftquellen?
Ich wünsche Ihnen viel Kraft, Energie und Wohlbefinden!

Erlernte Hilflosigkeit: Da kann man nichts machen…
In den 1960er Jahren fanden die amerikanischen Psychologen Martin E. P. Seligman und Steven F. Maier in Versuchen mit Hunden heraus, dass wiederholte Erfahrungen von Hilf- und Machtlosigkeit dazu führen können, dass die Tiere sich standardmäßig passiv und vermeidend verhalten. Die Versuche zeigten, dass die Tiere auch dann weiterhin hilflos und resigniert reagierten, wenn sich die äußere Situation verbesserte. Das Modell der „erlernten Hilflosigkeit“ kann auf Menschen übertragen werden und meint entsprechend die Erwartung eines Individuums, bestimmte Situationen oder Sachverhalte nicht kontrollieren und beeinflussen zu können.
Mit anderen Worten verfestigt sich unter bestimmten Lebensumständen in uns der Glaube, dass wir es aus eigener Kraft nicht schaffen können, eine Situation zu verändern oder zu verbessern. Wir nehmen unbewusst eine passive Haltung ein und reden uns ein: „Ich kann nichts tun.“, „Das war schon immer so.“, „Das habe ich noch nie gekonnt.“, „An mir liegt es nicht – die anderen müssen sich verändern.“,
„Das Schicksal ist einfach gegen mich.“ Oft ist diese innere Haltung nicht spontan entstanden, sondern wurde schon früh geprägt, z.B. durch unsere Art, wie wir Misserfolge interpretieren oder auch durch ein Umfeld, das unsere scheinbare Hilflosigkeit bestärkte.
Statt unsere Möglichkeiten wahrzunehmen und auch unser Handeln so zu lenken, dass wir uns aus einer herausfordernden Situation befreien und daran wachsen, können diese inneren Stimmen uns blockieren und klein halten. Wir gehen damit in eine selbst gewählte Falle, denn wir halten so sehr an den Überzeugungen fest, dass wir nichts tun können und hilflos sind, dass wir keinen Versuch mehr unternehmen, die Dinge in die Hand zu nehmen und unser Schicksal selbst zu lenken. Damit ist nicht gemeint, dass man jede Situation ändern und kontrollieren kann – aber oft haben wir sehr viel mehr Einfluss, als wir meinen, und halten uns nur unsere erlernten Gedanken- und Verhaltensmuster zurück.
Was können wir tun, um uns aus der erlernten Hilflosigkeit zu befreien?
Was also tun gegen die Stimmen im Kopf, die uns einflüstern, wir seien machtlos? Wir können selbst einige Schritte tun, um uns aus der Falle der erlernten Hilflosigkeit zu befreien:
1. Bewusst werden. Sich selbst beobachten und herausfinden, in welchen Situationen wir vielleicht passiv/mit Hilflosigkeit reagieren und vorschnell aufgeben, obwohl wir anders hätten handeln können. In welchen Situationen könnte es sich vielleicht lohnen, unsere einschränkende Haltung aufzugeben? Was flüstert die Stimme uns wiederholt in solchen und ähnlichen Situationen zu? Glaubenssätze identifizieren und einfach mal aufschreiben.
2. Eine neue Haltung finden. Wenn Sie Ihre typischen Überzeugungen identifiziert haben – welche innere Haltung würde Sie vielleicht besser unterstützen? Könnten Sie sich selbst auch etwas sagen, wie: „Das hat (noch) nicht geklappt, aber ich kann es lernen.“ oder „Ich mache es einfach/probiere es einfach mal aus.“ oder „Ich traue mir das zu.“ Welche Überzeugung motiviert sie am meisten? Sie können es sich zu Ihrem neuen Mantra/Ihrer neuen Einstellung machen.
3. Ihre Ressourcen aktivieren. Überlegen Sie sich Beispiele, wo es in der Vergangenheit vielleicht schon geklappt hat, aktiv zu sein und Ihr Schicksal zu beeinflussen? Was haben Sie bereits selbständig und aus eigener Kraft geschafft oder gelernt? Was haben Sie schon gemeistert und welche Hindernisse haben Sie schon genommen – und sich das vorher vielleicht auch nicht zugetraut. Erzählen Sie sich selbst von Ihren Erfolgen und erkennen Sie Ihre eigenen Stärken an.
4. Kleine Schritte. Genauso wichtig wie die innere Haltung ist auch unser Handeln. Nehmen Sie sich kleine Situationen und Schritte vor, mit denen Sie Ihre neue Haltung in die Tat umsetzen wollen. Suchen Sie sich gezielt Situationen, die Sie ein kleines bisschen herausfordern und probieren Sie aus, was Sie alles erreichen können, wenn Sie es sich vornehmen. So beweisen Sie sich selbst, dass Ihr Handeln wirksam ist. Mit der Zeit trauen Sie sich mehr und mehr zu und verlieren mehr und mehr die Haltung der erlernten Hilflosigkeit.
5. Verantwortung für sich selbst. Diese Schritte führen auch dazu, dass Sie mehr Eigenverantwortung übernehmen. Sie nehmen selbst die Zügel in die Hand und lenken sich selbst sanft aber bestimmt in die Richtung, die Ihnen gefällt. Niemand anderes als Sie kann das und wenn Sie die Verantwortung für sich übernehmen, können Sie bemerken, wie Ihr Einfluss und Ihre Macht auf Ihr Leben wachsen. Wir brauchen andere – aber wir sind auch frei darin, uns selbst zu helfen und zu unterstützen. Das ist eine erwachsene Haltung.
Nun heißt es: üben, üben, üben. ;-) Ich wünsche Ihnen viel Freude, sich aus den alten Denkmustern zu befreien und eine neue, selbstverantwortliche Haltung zu entwickeln. Für ein zufriedenes und erfülltes Leben!

Zum Umgang mit Scham
Scham ist ein Gefühl, dass wir am liebsten vermeiden möchten. Es ist schwer, über ein Thema zu sprechen, das wir mit Scham verbinden, und wenn wir uns akut für etwas schämen, suchen wir oft unbewusst schon nach einer Tür mit der Aufschrift „Exit“. Die Scham behält dadurch ihre Macht über uns, dass wir schweigen und nach außen so tun, als wäre alles in Ordnung, während wir im Inneren mit unseren Gefühlen kämpfen und uns minderwertig fühlen.
Beispiele für schambesetzte Themen können sein: beruflich läuft es gerade schlecht, arbeitslos zu sein, Probleme in der Partnerschaft, keinen Partner zu finden, kinderlos zu sein, ungeduldig mit seinen Kindern zu sein, die Kinder anzuschreien, süchtig zu sein, eine Krankheit zu haben, depressiv zu sein, wenig leistungsfähig zu sein, die Bewertung des eigenen Aussehens…
Die Scham kann einen Ursprung in der Kindheit haben, wenn wir beispielsweise als Kinder von Familienmitgliedern oder von einem Lehrer wiederholt beschämt wurden. Ich finde es sehr interessant zu erforschen, wann und in welcher Situation wir erstmals Scham empfunden haben. Manchmal ist es aber auch ein guter Zugang, der Scham einfach mal zuzuhören und zu bemerken, was wir uns selbst in diesem Moment erzählen, etwa: „Ich bin nicht gut genug“, „ich bin falsch, so wie ich bin“, „ich bin schlecht“…
Damit unsere vermeintliche Fehlerhaftigkeit nicht ans Licht kommt, werden wir zu wahren Schauspieler*innen oder bemühen uns, noch perfekter zu sein – und verstärken damit diese Glaubenssätze und Überzeugungen eher noch. Unbewusst hängen wir unseren Selbstwert daran, etwas Bestimmtes sein oder leisten zu müssen (oder eine bestimmte Erfahrung nicht gemacht zu haben), um unserem Ideal zu entsprechen und anerkannt zu werden. Dadurch kann eine regelrechte Schamspirale in uns entstehen.
Um etwas daran zu ändern und der Scham ihre Macht zu entziehen, ist es notwendig, sich mit ihr und unseren dunklen Seiten auseinanderzusetzen. Es geht darum – auf achtsame Weise, d.h. in kleinen Schritten – uns selbst so zu akzeptieren und zu zeigen, wie wir sind. Wenn wir uns bewusst trauen, über unsere Scham und Verletzlichkeit zu sprechen und unsere vermeintlichen Fehler und Makel nicht weiter verbergen, wächst das Vertrauen in uns selbst und wir entwickeln mehr und mehr Schamresilienz.
Schamresilienz meint in diesem Zusammenhang anzuerkennen, dass wir auch Fehler haben, aber trotzdem die Fähigkeit haben oder entwickeln, authentisch zu bleiben, wenn wir Scham empfinden, diese Erfahrung durchzustehen, und mit mehr Mut, Verbundenheit und Mitgefühl daraus hervorzugehen. Das kann bedeuten, dass wir während einer beruflichen Präsentation unsere Unsicherheit zugeben, vor uns und anderen unsere Ängste eingestehen oder offen darüber sprechen, was in unserem Leben gerade nicht so gut läuft. Dadurch werden wir authentischer, echter und lösen uns immer stärker von unserer Scham.
Schamresilienz entwickeln – Schritte im Umgang mit Scham
Wie geht das konkret? Welche Schritte können wir selbst tun, um mit Gefühlen von Scham besser umzugehen und freier davon zu werden?
1. Die Scham erkennen und ihre Botschaften nachvollziehen. Der erste Schritt ist, sich die Momente, in denen wir Scham empfinden, bewusst zu machen und sich die eigenen Gefühle einzugestehen. Hilfreich kann sein, eine Liste mit allen Dingen anzufertigen, die wir an uns selbst nicht mögen und für die wir uns manchmal schämen. Allein eine solche Liste zu machen, es sich von der Seele zu schreiben, kann schon befreiend wirken. Dabei können wir uns auch fragen: Was wiederholt sich? Durch welche Botschaften und Erwartungen an uns selbst wird die Scham ausgelöst?
2. Realitätscheck – Sind meine Erwartungen realistisch? Wenn wir die dahinterstehenden Erwartungen herausgefunden haben, können wir beginnen, diese einem Realitätscheck zu unterziehen. Sind die Anforderungen an uns selbst realistisch oder zu hoch? Würden wir die gleichen Erwartungen auch an andere Personen, an Freunde richten? Sind unsere Fehler und Schwächen wirklich so schlimm? Mit solchen und ähnlichen prüfenden Fragen können wir den Erwartungen und der Scham allmählich den Boden entziehen.
3. Über Scham sprechen. Keine leichte Aufgabe. Deshalb sollten wir auch erstmal nur mit denjenigen Menschen über unsere Scham und Verletzlichkeit sprechen, denen wir vertrauen. Über die Scham zu sprechen ist dennoch der zentrale Aspekt, um etwas zu verändern und über die Scham hinauszuwachsen. Wir stehen zu dem, was und wer wir sind und können dadurch die Erfahrung von Selbstannahme machen – und von Akzeptanz und Verbundenheit mit anderen Menschen.
4. Selbstannahme üben – Sich zeigen, wie man ist. Je häufiger wir uns erlauben, über die Scham zu sprechen und uns vor anderen zu zeigen, wie wir sind, desto mutiger und selbstbewusster werden wir. Wir machen uns unabhängig von dem, was andere von uns denken könnten und allein das kann uns ein gutes Gefühl und einen enormen Aufschwung geben. Vielleicht hilft es uns am Anfang, erst einmal „so zu tun, als ob“, das heißt, so zu tun, als wären wir schon selbstbewusst mit unseren Schwächen. Dann können wir langsam immer mutiger und echter, in Übereinstimmung mit uns selbst, handeln.
Ich wünsche Ihnen einen gelassenen Umgang mit Ihrer Scham und den Mut, sich so zu zeigen, wie Sie sind. Sie brauchen nicht perfekt zu sein.
Literatur:
Brené Brown, Verletzlichkeit macht stark. Wie wir unsere Schutzmechanismen aufgeben und innerlich reich werden, München 2013.

Der innere Ort der Geborgenheit
Am Jahresende kommen wieder einige Themen besonders nah an uns heran: Das Weihnachtsfest steht kurz bevor, Corona ist leider weiterhin präsent und auch allgemein sind wir vielleicht erschöpft nach allem, was wir zuvor geleistet und erfahren haben. Auch alte Ängste und Befürchtungen können in dieser Zeit erneut auftauchen.
Eigentlich könnten wir jetzt herunterfahren und uns eine Pause gönnen, und dennoch bleiben wir oft noch in unserem schnellen Tempo und fühlen uns innerlich gestresst. Momentan und in unserem Alltag ist es oft nicht möglich, dann sofort eine Urlaubsreise zu machen und an einem fernen Ort irgendwo am Strand zu entspannen.
Wenn wir innerlich mehr zur Ruhe kommen wollen und unserem erschöpften Ich eine Auszeit gönnen möchten, haben wir jedoch auch die Möglichkeit, uns nach innen zu wenden, und in uns selbst die Vorstellung eines Ortes entstehen zu lassen, der vollkommen unseren Vorstellungen von Ruhe und Geborgenheit entspricht.
Allein schon diese Vorstellung ist hilfreich, um innerlich aufzutanken und uns besser zu fühlen. Zahlreiche Studien belegen mittlerweile die Wirksamkeit von Imagination.
Im Folgenden möchte ich Ihnen die Übung des „inneren Ortes der Geborgenheit“ vorstellen, die Sie für sich anwenden können, wann immer Sie es möchten und brauchen:
Suchen Sie sich einen Ort, an dem Sie in den nächsten Minuten ungestört sind, und nehmen Sie eine bequeme Haltung im Sitzen oder Liegen ein.
Ich möchte Sie einladen, in Ihrer Vorstellung einen Ort entstehen zu lassen, an dem Sie sich ganz und gar wohlfühlen. Es kann ein Ort auf der Erde sein, muss es aber nicht. Verschiedene Ihnen bekannte Orte können sich mischen, wie in einem Traum. Es kann eine Landschaft sein, ein Ort in der Natur, ein besonderer Raum oder… Anders als in der Realität sind Ihnen in der Vorstellung keine Grenzen gesetzt.
Dieser Ort vereint alle Qualitäten, die Ihrer Vorstellung von Geborgenheit und Wohlgefühl entsprechen. Nehmen Sie sich die Zeit, alle Gegebenheiten dieses Orts so auszumalen, wie es Ihnen gefällt. Welche Dinge, welche Eigenschaften gehören dazu? Gibt es Pflanzen, Wasser, Bäume oder eine bestimmte Einrichtung? Ist der Raum eher weit oder begrenzt? Ist es Tag oder Nacht, eher hell oder dunkel? … Was brauchen Sie, um sich hier ganz wohlzufühlen?
Denken Sie nicht zu viel darüber nach, sondern lassen Sie die Bilder wie von selbst zu Ihnen kommen.
Sie können dem Ort eine Begrenzung geben, wie beispielsweise eine Hecke oder eine Mauer oder auch eine Art magische Grenze, damit Sie sich hier ganz sicher fühlen. Wenn Sie möchten, können Sie auch andere Lebewesen an diesen Ort einladen, die Sie hier haben möchten. Damit sind freundliche und liebevolle Begleiter, Helfer oder auch Tiere gemeint, die Ihnen an diesem Ort Gesellschaft leisten.
Prüfen Sie nun, ob Sie sich dort mit allen Sinnen wohl fühlen: Gefällt Ihnen das, was Sie sehen? Wenn es noch etwas gibt, das Ihnen nicht gefällt, dann ändern Sie es bitte. Ist das, was Sie hören, Klänge, Geräusche oder auch Stille, für Ihre Ohren angenehm – oder muss noch etwas verändert werden? Sind alle Gerüche für Sie angenehm? Wie ist die Temperatur an diesem Ort?
Wo befinden Sie sich dort selbst und wie ist Ihre Körperhaltung? Möchten Sie Ihre Haltung noch etwas verändern, dass Sie sich ganz wohlfühlen? Wenn Sie erschöpft sind, was würde dann jetzt am besten für Sie passen? Verändern Sie alles so weit, dass es für Sie stimmig ist.
Wenn jetzt alles so ist, wie Sie es mögen, nehmen Sie sich die Zeit, es auszukosten und auf sich wirken zu lassen. … Nehmen Sie wahr, wie es sich anfühlt, an diesem inneren Ort der Geborgenheit zu verweilen. Sie können auch eine körperliche Geste vereinbaren, die Sie an diesen Ort erinnert und die Ihnen als Anker hilft, den Ort später in Ihrer Vorstellung wieder leichter aufzurufen.
Beenden Sie dann die Übung, indem Sie den Kontakt Ihres Körpers mit dem Boden wahrnehmen, zum Beispiel den Kontakt der Fußsohlen zum Boden.
Ich wünsche Ihnen viel Freude mit der Imaginations-Übung und wunderbare und erholsame Feiertage!
Literatur:
- Luise Reddemann, Imagination als Heilsame Kraft. Ressourcen und Mitgefühl in der Behandlung von Traumafolgen, Stuttgart 2019.

Zum Umgang mit dem inneren Kritiker
Wir alle kennen diese fiese innere Stimme, die uns regelmäßig mit Selbstvorwürfen und Zweifeln attackiert: „Ich schaffe das sowieso nicht.“, „Ich kann mich selbst nicht leiden, wenn ich mich so vernachlässige.“ „Ich kann mich einfach nicht gut genug ausdrücken!“ und so fort. Sie kann uns das Leben und die Beziehung zu uns selbst ganz schön schwer machen und uns in entscheidenden Momenten blockieren, uns minderwertig fühlen lassen und auch die Beziehung zu anderen stören.
Oft sind uns die Botschaften des inneren Kritikers schon so vertraut, dass wir gar nicht merken, wie hart wir gegen uns selbst vorgehen. Wir halten die innerlichen Bewertungen und Urteile, die sich unablässig wiederholen, für die Realität. Deshalb ist der erste Schritt, um sich aus dem ‚Klammergriff‘ des inneren Kritikers zu befreien, ihn sich bewusst zu machen – und als einen Teil von uns zu identifizieren. Denn der innere Kritiker ist nicht die „Stimme der Wahrheit“, sondern eine früher einmal entstandene kreative Strategie, die uns damals als hilfreich erschienen ist.
Es kann sein, dass wir damit unbewusst die strengen Aussagen eines Elternteils imitieren, weil wir uns als Kinder erhofft haben, dadurch die Liebe unserer Eltern zu erhalten, oder weil wir gelernt haben, dass wir etwas leisten müssen, um anerkannt zu werden. Die Kritikerhaltung diente uns als Schutz, um unangenehme Erfahrungen vorwegzunehmen oder zu vermeiden. Häufig ist es aber auch nicht nur die Stimme einer Person, die wir übernommen haben, sondern eine Mischung aus verschiedenen Stimmen oder auch eine unausgesprochene Atmosphäre.
Relativ leicht lässt sich der Kritiker dadurch identifizieren, dass in seinen Botschaften häufig die Worte „müssen“ oder sollen“ vorkommen: „Ich muss diese Aufgabe perfekt zu Ende bringen.“, „Ich sollte viel mehr schaffen/leisten; dann erhalte ich die Anerkennung wichtiger Personen.“ Automatisch entsteht ein Gefühl der Unfreiheit und Ohnmacht. Durch ein solches Selbstgespräch wird man selbst wieder in die Rolle des Kindes zurückversetzt, das sich mit den Erwartungen von außen identifizierte.
Wie lässt sich die Beziehung zum inneren Kritiker verändern und verbessern?
Wenn wir den inneren Kritiker erkannt haben – welche Möglichkeiten gibt es für einen besseren Umgang?
1. Die Stimme lokalisieren. Wenn wir die kritische, abwertende Stimme bemerkt haben, können wir uns fragen, aus welcher Richtung wir sie wahrnehmen. Hören wir sie eher von außen oder aus dem Kopf oder Körper? Kommt sie von vorne oder von hinten, ist sie eher seitlich, aus einer höheren oder tieferen Perspektive wahrnehmbar? Indem wir die Stimme verorten, nehmen wir sie als „etwas“ und als Gegenüber wahr und lösen uns bereits etwas von einer Identifikation mit ihr.
2. Einen guten Ort für den Kritiker finden. Zunächst können Sie die Stimme freundlich begrüßen. Das ist ihr Kritiker nicht gewohnt und allein dadurch wird ihm schon ein wenig Wind aus den Segeln genommen. Sie können ihn auch für eine Weile in ihrer Vorstellung an einen guten Ort senden. Wo würde er sich wohl fühlen? Vielleicht könnte er eine Weile eine komplizierte Rechenaufgabe lösen oder an ihrem Schreibtisch bei der Arbeit am nächsten Text feilen… Probieren Sie aus, was möglich ist und welcher Ort am besten für ihn passt. Damit haben Sie sich für eine vereinbarte Zeit etwas Abstand zu ihm verschafft.
Sollten die ersten beiden Schritte nicht sofort klappen, seien Sie bitte nicht streng mit sich. Vielleicht fällt es ihnen leicht, mit Ihrem inneren Kritiker in Kontakt zu kommen und ihn an einen guten Ort zu versetzen – oder vielleicht sind dafür ein längerer Prozess oder die Arbeit mit einem Therapeuten notwendig. Dieser Beitrag möchte lediglich erste Anregungen geben.
3. Einen Dialog mit dem inneren Kritiker beginnen. Statt sich zu wünschen, den inneren Kritiker für immer loszuwerden, können Sie auch mehr über ihn in Erfahrung bringen. Da er ein Teil von Ihnen ist, lohnt es sich wahrscheinlich, ihn besser kennenzulernen und eine freundliche, annehmende Haltung zu ihm einzunehmen. Statt gegen ihn anzukämpfen, lernen Sie die Energie kennen, die in ihm steckt. Mögliche Fragen sind:
- Wie lange gibt es dich schon?
- Wozu bist du da? Was ist deine Aufgabe in meinem Leben?
- Wie würde mein Leben ohne dich aussehen?
- Was würde passieren, wenn es nur dich gäbe? Wie wäre mein Leben dann? …
Bei dem Dialog mit der inneren Stimme geht es weniger darum, die Fragen vom Verstand her zu beantworten. Wenn Sie in Kontakt mit Ihrer kritischen inneren Stimme sind, lassen Sie sich Zeit, lenken Sie Ihrer Aufmerksamkeit nach innen und warten Sie eine Weile ab, welche Antworten von dort heraus entstehen. Möglicherweise ist diese Vorgehensweise ungewohnt und braucht Übung oder eine Begleitung. Aber die Zeit und Aufmerksamkeit, die Sie Ihrem Kritiker/Ihrem inneren Anteil schenken, zahlt sich aus, wenn dieser Teil wahrgenommen wird.
4. Den inneren Teil anerkennen und wertschätzen. Wenn Sie mehr über den inneren Kritiker erfahren, wenn Sie etwas über seine ursprüngliche Funktion herausfinden, wird dies vermutlich etwas an Ihrer Beziehung zu ihm verändern. Sie haben die Chance zu entdecken, was das Gute ist, das der Kritiker Ihnen zu bieten hat. Wenn es möglich ist, bleiben Sie einen Moment dabei und erkennen Sie an, dass er früher einmal oder auch jetzt noch eine wichtige Funktion für Sie hatte bzw. hat… Wenn Sie diese Aufgabe Ihres Kritikers wahrnehmen und eventuell sogar wertschätzen können, befreien Sie sich von seinen Attacken und wird Weiterentwicklung möglich.
5. Eine neue Aufgabe für den Kritiker. Wenn der Kritiker buchstäblich seine Waffen niederlegen kann, wenn seine Aufgabe gesehen und anerkannt wurde, ist es möglich, ihm einen neuen Auftrag zu geben. Wie könnte der innere Kritiker – der jetzt gar kein Kritiker mehr sein muss – Sie ab jetzt besser unterstützen und hilfreich für Sie sein? Kann er Sie möglicherweise ermahnen, wenn Sie in alte Muster fallen und zum Beispiel zu wenige Pausen machen? Soll er Sie mit einer neuen Botschaft unterstützen, sich an für Sie wichtige Überzeugungen zu erinnern? Probieren Sie aus, wie diese Instanz und die darin enthaltene Energie Ihnen ab jetzt auf passende Weise zur Verfügung stehen kann.
Die Auseinandersetzung mit dem inneren Kritiker erfordert Mut und so etwas wie eine freundlich-neugierige Haltung, mit der wir diesem Teil begegnen können. Wenn es gelingt, sich ihm auf diese Weise anzunähern, verändern wir unseren inneren Dialog und haben die Chance auf eine wohlwollendere Beziehung zu uns selbst. Es lohnt sich! Ich wünsche Ihnen Freude und Mitgefühl im Umgang mit Ihrem Kritiker.
Literatur:
- Ann Weiser-Cornell, Focusing – Der Stimme des Körpers folgen. Anleitungen und Übungen zur Selbsterfahrung, Reinbek bei Hamburg 1997.
- Klaus Renn, Magische Momente der Veränderung. Was Focusing bewirken kann, München 2016.

Ich bin genug – Wege raus aus dem Perfektionismus
Perfektionismus ist heute ein so weit verbreitetes Phänomen, dass es schwerfällt, das dahinter liegende Muster einfach so abzustreifen. Wir erwarten von uns selbst nicht einfach nur gute, sondern die allerbesten Ergebnisse, damit der Chef oder die Kollegen uns anerkennen und wir mit uns selbst zufrieden sein können. Statt uns selbst und unser Aussehen zu akzeptieren, wie wir sind, quälen wir uns mit Selbstvorwürfen und Zweifeln. Die Arbeit an dem neuen Konzept oder unserer Website schieben wir immer weiter auf und fühlen uns blockiert, weil wir eine viel bessere Vision vor Augen haben, die wir erreichen könnten.
Ein gesundes Maß an Perfektionismus ist durchaus unproblematisch: Ansprüche an uns selbst können uns dazu bringen, beruflich erfolgreich zu sein, unsere persönlichen Ziele zu erreichen und uns weiterzuentwickeln. Schwierig wird es erst, wenn die Maßstäbe, die wir an uns selbst oder die Erfüllung unserer Aufgaben richten, unrealistisch werden. Wenn wir also nicht mehr nur gute oder sehr gute Ergebnisse erzielen wollen, sondern perfekte Ergebnisse abliefern wollen. Wenn wir selbst (unser Aussehen, unsere Familie, die Ordnung in unserer Wohnung etc.) vollkommen sein müssen, bevor wir mit uns zufrieden sein können.
In diesem Fall verursacht das Streben nach Perfektionismus viel inneren Druck, der dazu führen kann, dass wir uns gestresst oder deprimiert fühlen, dass sich unsere Angst verstärkt, Fehler zu machen, und wir meinen, immer mehr leisten zu müssen – so dass wir uns wie in einem Hamsterrad gefangen fühlen, zwischen dem Anspruch, mehr zu erreichen, und dabei aber nie anzukommen bzw. vor uns selbst zu genügen. Auf Dauer können solche extremen Ansprüche gesundheitsschädigend wirken und Ursache für Depressionen, Burn-out u.a. sein. Das hohe gesellschaftliche Leistungsideal trägt einen Teil dazu bei, solche überhöhten Maßstäbe aufrechtzuerhalten.
Im Kern steckt in den perfektionistischen Ansprüchen häufig eine Versagensangst, die jedoch leider immer größer wird, je mehr wir versuchen, uns vor Fehlern zu schützen und sie zu vermeiden. In manchen Fällen führt die Angst zu versagen sogar so weit, dass wir warten, bis die perfekten Voraussetzungen für perfekte Handlungen gegeben zu sein scheinen: Wir geben den Artikel erst ab, wenn der Text perfekt formuliert ist, bewerben uns erst für die spannende neue Stelle, wenn wir sicher sind, alle Anforderungen zu erfüllen – und warten damit unter Umständen so lange, bis uns ein grauer Bart gewachsen ist, oder beenden die Aufgabe vielleicht sogar nie.
Wege aus dem Perfektionismus
Was also hilft uns, die Blockade zu überwinden und einen unförderlichen Perfektionismus abzulegen? Einsicht ist der erste Schritt zur Veränderung und wenn wir also erkennen, dass wir bereits in der Perfektionismus-Falle stecken, gibt es kreative Möglichkeiten, um dem zu entgehen und uns den Perfektionismus abzugewöhnen.
1. Eine förderliche Haltung entwickeln: Oft erzählen wir uns unbewusst selbst, dass wir nicht genügen, perfekt sein müssen, oder vergleichen uns selbst mit anderen. Manchmal wiederholen wir damit die Meinung oder Ansprüche unserer Eltern oder etwas, das wir meinen, das andere über uns denken. Welche innere Haltung oder Einstellung würde Sie stattdessen mehr unterstützen? Vielleicht: „So wie ich bin, genüge ich.“ oder „Ich bin auch liebenswert, wenn ich nicht perfekt bin.“ Finden Sie einen Satz, der Ihnen am meisten gefällt, und machen Sie ihn zu Ihrem neuen Mantra.
2. Selbstakzeptanz: Wahrscheinlich das stärkste Mittel gegen den Druck, perfekt sein zu wollen, ist, sich selbst so zu akzeptieren, wie man ist. Wie würden Sie einen guten Freund oder eine gute Freundin behandeln, wenn Sie Ihnen von ähnlichen Schwierigkeiten erzählen würde? Können Sie eine mitfühlende, akzeptierende Haltung sich selbst gegenüber entwickeln? Hilfreich ist die innere Einstellung: „Ich bin okay, so wie ich bin.“ oder auch „Ich bin okay, auch der Text noch Fehler hat, die Wohnung unaufgeräumt ist, ich noch nicht alle Emails beantwortet habe o.ä.“
3. Die eigenen Ansprüche senken (und Ideale entlarven): Am meisten blockieren uns unsere eigenen bewussten oder unbewussten Ansprüche. Meist fordern wir dabei 100 oder sogar 120 Prozent von uns. Dagegen können wir uns selbst fragen: „Wer erwartet das eigentlich von uns?“, und unsere Idealvorstellung mit realistischen Maßstäben überprüfen. Sehr wirkungsvoll ist, statt immer nur das Ziel oder Ergebnis im Blick zu haben, uns nur auf den nächsten kleinen Schritt zu konzentrieren. Dadurch senken wir unsere Ansprüche an uns selbst und ein großer Teil des Drucks fällt von uns ab.
4. Sich Fehler erlauben: Üben Sie sich darin, einen gelasseneren Umgang mit Ihren Fehlern zu finden. Wichtig ist nicht, sich keine Fehler zu erlauben, sondern häufig lernt man gerade am meisten aus Fehlern und hat später immer noch die Möglichkeit, sie zu korrigieren, sich zu entschuldigen oder sie einfach als „Erfahrung“ zu verbuchen. Oft ist passiert viel weniger, wenn wir einen Fehler gemacht haben, als wir befürchten. Probieren Sie es aus: Machen Sie absichtlich Fehler. Wahrscheinlich machen Sie die Erfahrung, dass die Welt davon nicht untergeht – und entdecken vielleicht Überraschendes.
5. Vom „müssen“ zum „wollen“: Unser innerer Kritiker flüstert uns gerne ein, was wir „sollten“ und „müssen“. Manchmal genügt es schon, um ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen, diese Worte aus dem eigenen Wortschatz zu streichen. Statt „Ich muss dies oder das heute noch fertig bekommen.“ oder „Ich sollte eine höhere Leistung erzielen.“ können Sie den Gedanken umformulieren zu: „Ich will/möchte gern dieses oder jenes erreichen.“ Gerne auch mit dem Zusatz: „Und wenn es nicht klappt, ist es auch in Ordnung. Morgen ist ein neuer Tag.“
6. Für Abenteuerlustige: Einen Tag lang unvollkommen sein. Wenn Sie Ihren Perfektionismus durchbrechen möchten, kann es auch hilfreich sein, sich mal einen Tag lang zu erlauben, möglichst unperfekt zu sein. Schlafen Sie zu lang, kleiden Sie sich ungewohnt nachlässig, lassen Sie die Wohnung unaufgeräumt und kommen Sie zu spät zu einer Verabredung, wenn Sie sonst die Tendenz haben, überpünktlich zu sein. Genießen Sie die neuen Handlungsmöglichkeiten und -räume, die sich damit auftun. Am nächsten Tag können Sie wieder gewohnt ordentlich und zuverlässig sein. Aber vielleicht haben Sie ein bisschen mehr Gelassenheit darin gewonnen, unvollkommen zu sein.
Um den Perfektionismus abzulegen braucht es vor allem das: Gelassenheit und den Mut zur Unvollkommenheit. Seien Sie nicht allzu streng mit sich. Vielleicht ist es am Anfang ungewohnt, weniger perfektionistisch und vielmehr großzügiger mit sich selbst zu sein. Gestehen Sie sich selbst zu, dass Wachstum und Veränderung etwas Zeit brauchen. Ich wünsche Ihnen dabei viel Freude, Mut und Lebendigkeit.