
Über die Grenzen von Empathie
Ich hatte schon länger einen weiteren Beitrag zum Thema Hochsensibilität schreiben wollen und habe mich schließlich dazu entschieden, die Eigenschaft der Empathie genauer zu untersuchen - die für viele hochsensible Menschen typisch ist. Gemeint ist damit die Fähigkeit, sich in die Gefühle anderer hineinzuversetzen. Ich würde sogar noch ergänzen, dass es in beide Richtungen verläuft: eine erhöhte Wahrnehmung für sich selbst und für andere. Für viele Hochsensible ist diese Eigenschaft so vertraut, dass sie eher verwundert sind, wenn andere Menschen viel weniger darüber verfügen und oft nicht wahrnehmen können, was in ihrem Gegenüber vorgeht.
Menschen mit hoher Empathie reagieren nicht nur betroffen, wenn sie hören, dass ihnen nahestehende Menschen etwas Schwieriges erleben, wenn z.B. ein Kind in der Schule gemobbt wird oder ein*e Freund*in eine schlechte Diagnose erhalten hat, sondern sie teilen deren Gefühle wie Angst, Ärger oder Trauer, indem sie sich daran erinnern, wie sie sich gefühlt haben, als sie eine vergleichbare Situation erlebt haben und sich ängstlich, frustriert oder traurig gefühlt haben. Ebenso werden positive Gefühle mitempfunden, wie die Freude über eine bestandene Prüfung, eine neue Liebe oder wenn es einem anderen Menschen gesundheitlich besser geht. Auch dann werden die Freude und Erleichterung intensiv mitempfunden.
Empathie hat viele wunderbare Vorzüge: ein vertieftes Verständnis für sich und andere; Menschen fühlen sich in Beziehungen besser verstanden, getröstet oder sicher. Empathie ermöglicht es, tiefe gefühlsmäßige Beziehungen einzugehen und fördert die soziale Kompetenz. Konflikte können besser vorhergesehen und Lösungen gefunden werden, die beiden Seiten dienen. Sie fördert hilfsbereites Verhalten einzelner Menschen sowie in gesellschaftlichen Zusammenhängen...
Ebenso kann Empathie jedoch manchmal Nachteile für uns haben: Insbesondere, wenn wir das Wohl und die Gefühle der anderen Person über unsere eigenen stellen, wenn das Einfühlungsvermögen in Beziehungen zu einseitig gelebt wird oder wir uns gewohnheitsmäßig um die anderen kümmern, während wir uns selbst vernachlässigen. Speziell wenn wir es gewohnt sind, aus unserer Empathie und Hilfsbereitschaft einen Teil unseres Selbstwerts abzuleiten ("wenn ich anderen helfe und ihre Bedürfnisse erfülle, bin ich wertvoll/liebenswert") verwandelt sich unser Einfühlungsvermögen in die Gefühlslagen und Bedürfnisse anderer Menschen in eine Falle.
Hochsensiblen und empathischen Menschen fällt es oft schwer, Grenzen zu setzen und für ihre eigenen Belange einzustehen. Das kann auch dazu führen, dass sie sich von anderen vereinnahmen oder sogar manipulieren lassen: vom Chef, der kurz vor Feierabend noch unliebsame Aufgaben an sie abgibt, oder von dem*der Partner*in, der*die ihr Einfühlungsvermögen geschickt für eigene Anliegen nutzt.
Wie können Hochsensible dieser Falle entgehen? Wie können sie empathisch bleiben und dennoch einen guten Abstand zu den Gefühlen und Erwartungen anderer finden?
Die Grenzen von Empathie anerkennen
Die eigene Perspektive klären und einnehmen. Wenn empathische Personen merken, dass ihre Bedürfnisse übergangen werden, wenn sie sich wütend oder erschöpft fühlen, weil sie ihre Aufmerksamkeit zu sehr auf andere richten, ist ein guter Schritt, zuerst die eigenen Gedanken und Gefühle zu klären. Wie geht es mir? Welche Bedürfnisse habe ich und welchen Standpunkt nehme ich bei einer aktuellen Situation ein? Möchte ich beispielsweise wie mein*e Partner*in einen aktiven Urlaub oder sehne ich mich nach Ruhe und Erholung? Kann ich mir vorstellen, die berufliche Aufgabe noch zu übernehmen, oder werden damit eigentlich meine Grenzen überschritten? Zu Beginn kann sich ungewohnt anfühlen, die Aufmerksamkeit wieder auf die eigenen Bedürfnisse zu lenken.
Grenzen setzen und Nein sagen lernen. Wenn du klarer siehst, was du möchtest und was nicht, geht es im nächsten Schritt darum, diese Bedürfnisse an die erste Stelle zu setzen und danach zu handeln. Wenn du gerade erschöpft bist, ein*e Freund*in aber gerade jemanden zum Reden braucht, könnte es zum Beispiel bedeuten, dass ihr das Gespräch auf einen anderen Zeitpunkt verschiebt. Wenn du dich im Beruf verausgabst und dich dadurch in deiner Freizeit regelmäßig ausgelaugt und gereizt fühlst, ist es wahrscheinlich an der Zeit, klarere Grenzen zu ziehen und häufiger Nein zu sagen. Das kann schwer sein, weil du viel Verständnis hast für Freunde, den Chef oder die Kolleg*innen, bedenke aber, dass diejenigen Menschen am meisten mitfühlend sind, die klare Grenzen setzen.
Verantwortung klären. Manche Menschen mit hohem Einfühlungsvermögen nehmen die Gefühle anderer so stark wahr, als wären es ihre eigenen. Dann verschwimmen die Grenzen und sie übernehmen Verantwortung für andere mit. Hilfreich wäre es, sich die Frage zu stellen, sind es gerade meine Emotionen, die mich so mitnehmen, oder die der anderen Person? Bin ich gerade überwältigt von etwas und spüre einen Handlungsbedarf, das gar nicht zu mir gehört? Wenn ich so etwas Abstand zu den Gefühlen anderer einnehme, klärt sich auch meine Verantwortung. Ich bin zuständig für meine Gefühle, Herausforderungen und Nöte, während die andere Person für sich verantwortlich ist. Womöglich kann ich dem anderen Menschen gar nicht helfen, weil dieser sich nicht helfen lassen will oder es nicht in meiner Macht steht.
Innere Gebote und Glaubenssätze entkräften. "Ich muss mich um alle kümmern.", "Wenn ich Grenzen setze, bin ich egoistisch.", "Ich sollte die Erwartungen erfüllen." So oder so ähnlich können unbewusste Glaubenssätze lauten, die dazu führen, dass empathische Menschen in ihrer Rolle bleiben, sich um alle und alles zu kümmern. Oft sind solche Überzeugungen schon früh, in unserer Kindheit entstanden und fühlen sich wie Wahrheiten an. Um davon Abstand zu gewinnen und das aufopfernde Verhalten zu beenden, sollten die Glaubenssätze aufgedeckt und hinterfragt werden. Welche neuen Glaubenssätze wären hilfreicher und passender für mich? Z.B. "Ich bin ok, wenn ich Grenzen setze und auch mal keine Zeit habe.", "Ich darf mich um meine Bedürfnisse kümmern.", "Ich respektiere meine Gefühle."
Unseren Selbstwert stärken. Wenn wir unseren Selbstwert daraus beziehen, was wir leisten und ob wir anderen gegenüber genügend hilfsbereit/loyal/aufmerksam sind, verstärkt es unsere Abhängigkeit von der äußeren Perspektive. Wir werden erst dann mit uns zufrieden sein, wenn wir glauben, dass alle um uns herum es sind. (Und das ist in unserer Wahrnehmung vielleicht nie der Fall.) Der Weg, sich daraus zu befreien, ist, unseren Selbstwert nicht von den Reaktionen anderer Menschen oder dem, was wir für sie tun, abhängig zu machen, sondern zu erkennen, dass wir bereits so wie wir sind liebenswert, wertvoll und ok sind. Dazu ist es meistens notwendig, unsere Ansprüche und Erwartungen an uns selbst zu überprüfen und zu reduzieren.
Ich hoffe, der Beitrag hat dich inspiriert, und wünsche dir eine gute Balance zwischen Empathie für andere und Selbst-Empathie!

Gedanken zum Thema Hochsensibilität
Weil das Thema viel mit mir zu tun hat und weil ich als Coach häufiger danach gefragt werde, möchte ich den aktuellen Blogbeitrag dem Thema Hochsensibilität widmen. Lange war mir selbst nicht klar, dass Menschen eine so verschiedene Wahrnehmung haben können und Situationen vollkommen anders erleben. Für mich war typisch, dass ich viele Dinge gleichzeitig spüre und wahrnehme, ein gutes Gefühl für alles Zwischenmenschliche besitze und ein empfindliches Gehör für Klänge habe.
Das sind einige typische Eigenschaften von Hochsensibilität – die jedoch nicht für jeden hochsensiblen Menschen alle gleich zutreffen müssen. Die meisten Hochsensiblen nehmen jedoch sehr differenziert wahr, das heißt wenn sie beispielsweise einen Raum betreten, erfassen sie die darin anwesenden Menschen, ihre Stimmungen, das Gesagte, aber auch zum Beispiel die Proportionen des Raumes, die Temperatur, Farben, einen Luftzug oder ob es eher stickig in dem Raum ist. Bei bestimmten Reizen kann das Erleben besonders intensiv sein, zum Beispiel bei Geräuschen oder Gerüchen, vor allem aber bei allen ‚Schwingungen‘, die zwischen Menschen entstehen, bei Gefühlen und leisen Zwischentönen.
Nicht-Hochsensible betreten den gleichen Raum und sehen möglicherweise das Gleiche, jedoch fallen ihnen nicht so viele Feinheiten und Unterschiede auf, das heißt sie reagieren nicht so empfänglich auf die Reize. Mit anderen Worten: In der gleichen Situation und bei ein und demselben Reiz kann das Erregungsniveau des Nervensystems bei Hochsensiblen höher als bei Nicht-Hochsensiblen sein. Das Wort ‚hochsensibel‘ ist vor diesem Hintergrund etwas irreführend: Im Englischen wird der Begriff ‚highly sensitive person‘ (‚hochsensitiv‘) verwendet, der eher den Zusammenhang zur Wahrnehmung von Sinnesreizen herstellt.
Die Qualität hochsensibel zu sein, hat auch Schattenseiten: Hochsensible sind oft dünnhäutig, sie reagieren empfindsam auf äußere Einflusse, die Reize in der Außenwelt, aber auch ihre eigenen Gefühle und Gedanken können ihnen zuviel werden, sie sind mitunter schneller erschöpft und sie brauchen oft mehr Zeit, die Dinge zu verarbeiten. Und ich kenne fast keinen Hochsensiblen, für den es nicht schwierig ist, sich gut abzugrenzen. Man könnte auch sagen, dass sie lernen müssen, angemessen auf sich und ihre Sensibilität zu achten. Schwierig wird es vor allem dann, wenn sie diese Eigenschaft bei sich selbst ablehnen.
Seitdem ich mich mehr mit dem Thema beschäftige, ist mir jedoch ebenfalls sehr klar geworden, dass Hochsensibilität eine großartige Stärke ist: Ich habe eine feinere Wahrnehmung für andere und für mich selbst. Das trägt auch zu einer starken Intuition bei, einfach weil ich halb bewusst, halb unbewusst viel mehr Informationen aufnehme und weiterverarbeite. Daraus entwickelt sich oft ein gutes Gespür und eine Klarheit, ohne genau sagen zu können, woher es kommt. Hochsensible haben zudem häufig viele kreative Eigenschaften, nicht umsonst sind vor allem viele Künstler, Schriftsteller und Erfinder hochsensibel.
Hochsensibilität ist nicht gleich Introvertiertheit, ist nicht gleich Schüchternheit, ist nicht gleich Unsicherheit oder Angst
Last but not least noch ein Wort zu den häufigsten Vorbehalten, denen Hochsensible begegnen. Hochsensibilität ist nicht gleichbedeutend mit Introvertiertheit. Natürlich können hochsensible Menschen auch introvertiert sein und dazu neigen, leise und nach innen gekehrt zu sein. Es gibt aber ebenso extrovertierte Hochsensible, die zwar sensibel auf innere und äußere Reize reagieren, aber trotzdem großen Spaß daran haben, neue Menschen kennenzulernen und Teil einer Gruppe zu sein. Von ihrer Umwelt kann Hochsensiblen (aus Unwissenheit) gespiegelt werden, sie seinen besonders schüchtern oder ängstlich – eine feinere Wahrnehmung und ein auf Hochtouren arbeitendes Nervensystem sagen jedoch nichts darüber aus, ob sie in sozialen Situationen besonders schüchtern reagieren.
Hochsensibilität ist eine Eigenschaft von vielen, die eine Person auszeichnen können. Es ist sehr wertvoll, sie besser kennenzulernen und sogar zu nutzen, weil Sie durch diese Seite einen ganz individuellen, besonderen Beitrag in die Welt bringen.
Wenn Sie neugierig auf das Thema geworden sind, empfehle ich ihnen gern das Buch von Elaine Aron: Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen, München 2005.
Teilen Sie mir gern Ihre Meinung und Gedanken zum Thema Hochsensibilität mit!